Freitag, 15. Oktober 2010

Altpapier

Ich bin spät dran. Hoffentlich schaffe ich es noch. Die Armbanduhr zeigt schon zehn vor zehn. Eilig überquere ich die Straße bei rot. Das soll man nicht machen. Aber ich habe es halt eilig, denn ich will nicht zu spät kommen. Das könnte sonst Ärger geben. Schon sehe ich das Ziel vor mir. Die Straßeneinmündung der Querstraße und, auf meiner Straßenseite, die vier Container: Weißglas, Grünglas, Braunglas und Altpapier. Es ist fünf vor zehn. Ich bin pünktlich – fast überpünktlich. Glück gehabt. Aus dem Grünglascontainer höre ich ein leises Raunen. Vielleicht war es aber auch nur der Wind. Das Wetter scheint heute unbeständig zu sein. Die Wolken wirken unentschlossen, ob sie ihre feuchte Fracht abwerfen, oder damit doch lieber bis morgen warten sollen. Ich gehe zum Altpapiercontainer und horche gespannt hinein.

Das mit dem Bleistift war einfach. Direkt am U-Bahnhof war ein Schreibwarenhandel, in dem ich einen nicht lackierten Bleistift gekauft habe. Er steckt jetzt in meiner Umhängetasche vorne rechts. Schwieriger, das habe ich mir gleich gedacht, ist es mit der Papaya. Der Obsthändler am U-Bahnhof hatte natürlich keine Papayas. Er meinte, ich könnte ja auch eine Mango probieren. Mangos hätte er. Aber so einfach ist es nicht. Mangos sind ja keine Papayas und werden auch nie welche sein. Ich brauchte eine Papaya. Die Stimme hat ganz deutlich eine Papaya verlangt. Dann kann ich ja nicht eine Mango kaufen, bloß weil der Obsthändler keine Papayas führt. Ich muss mich schon daran halten, was die Stimme aus dem Altpapiercontainer zu mir sagt. Schon halb elf, stellte ich erschrocken fest. Das wird eng. So überlege ich, ob ich erst einmal das mit den Plakaten machen, oder doch direkt zur Matthäikirche fahren soll. In dem Moment sehe ich an der Straßenecke einen Copy-Shop und beschließe, erst einmal die Plakate zu drucken und dann zur Matthäikirche zu fahren. Das müsste ich noch schaffen. Die Plakate sind kein Problem. Zehn Minuten später verlasse ich mit fünfzig DIN-A3 Plakaten in einer Plastiktüte den Copy-Shop und fahren mit dem Bus zur Matthäikirche.

Fünf vor elf komme ich an der Matthäikirche an und stecke den unlackierten Bleistift mit der Spitze nach unten in den Rasen neben der Kirche, wie es von mir verlangt wurde. Ich betrachte mein Werk. Die erste Aufgabe ist erfolgreich erledigt. Ein junger Mann beobachtet mich und grinst. Was ich da mache, will er wissen. Ich sage es ihm. Er sagt ein verständnisloses „aha“ und sieht mich an, als ob ich ein irre wäre. Ich ärgere mich, dass ich es ihm gesagt habe. Diese Leute verstehen doch nichts, denke ich bei mir, während ich mich beeile zur U-Bahn zu kommen. Die hören halt nicht die leisen Stimme aus den Papiercontainern, sondern stattdessen nur das laute Geplappere der Briefkästen und kaufen dann Aktien oder Zeitschriftenabos für Zeitschriften, die sie nicht interessieren. Wer, frage ich mich, wer ist also hier irre? Und eine Papaya habe ich immer noch nicht. Die U-Bahn fährt vor meiner Nase weg. Ich ärgere mich. Die nächste U-Bahn fährt, laut Anzeige, erst in fünf Minuten. Kurz überlege ich, ob ich es vielleicht schaffen würde, hier in einen Supermarkt zu gehen und eine Papaya zu kaufen. Ich schüttele den Kopf. Das ist zu knapp. Wegen diesem Verrückten hast du deine Bahn verpasst und schaffst deine Aufgaben nicht pünktlich zu absolvieren. Schon Viertel nach elf. Noch bin ich in der Zeit. Wenn ich diese Papaya nur schon hätte. Die Bahn kommt und ich steige ein.

Auch der Obsthändler in der Friedrichstraße hatte keine Papaya, aber immerhin wollte er mir keine Mango oder Kiwi andrehen. Stattdessen gab er mir den Tipp, mal in der Feinkostabteilung des Kaufhauses zu fragen. Ein guter Tipp. Dort stehe ich nun an der Kasse – mit einer Papaya in der Hand. Inzwischen ist es Viertel vor zwölf. Zum Glück habe ich für das Kleben der Plakate bis morgen früh um sechs Uhr Zeit. Morgen Früh um sechs Uhr werden fünfzig DIN-A3-Plakate den Bürgern sagen „Milch ist Macht Menschenmütter“. Das müsste ich bis dahin schaffen. Zehn vor zwölf komme ich am Bahnhof an und hechte in den Zug, als die sich dessen Türen schon schließen. Ich werde eingeklemmt, kann mich aber aus der Klemme befreien. Noch mal Glück gehabt meint eine alte Frau. Ich nicke. Trotzdem: Bis zwölf schaffe ich es nicht nach Spandau. Das schaffe ich nie im Leben. Aber das war auch viel zu knapp kalkuliert. Klar, wenn der erste Obsthändler Papayas gehabt hätte, hätte ich es schaffen können. Und wenn mich dieser irre Mann an der Matthäikirche nicht aufgehalten hätte. Vielleicht hätte ich doch eine Mango kaufen können, grübele ich, während ich aus dem Fenster auf die vorbeiziehenden Häuser schaue. Aber nein. Das wäre vollkommen falsch gewesen. Das wäre Betrug gewesen. Das ging nicht. Nein, es war schon richtig, so, wie ich es gemacht habe. Und eine Papaya habe ich ja nun inzwischen acuh in meiner Tasche; ordentlich eingepackt in eine Papiertüte. Die werde ich natürlich morgen mitbringen und in meinen Container werfen, als Beweis.

Um halb eins endlich stehe ich auf der Havelbrücke, eine halbe Stunde zu spät. Ich packe die Papaya aus der Papiertüte und werfe sie hinunter in die Havel. Es platscht. Kurz geht sie unter und taucht dann wieder auf. Ich sehe ihr ein Stück nach, nehme dann meine Plastiktüte mit den Plakaten und fahre zurück in die Stadt. Hoffentlich sind die Aufgaben morgen nicht so stressig. Ich freue mich schon aufs Wochenende.

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