Montag, 31. Oktober 2011

Das Taxi zum Trinkteufel

Von Schrobers Ende gibt es verschiedene Versionen. Manche sagen, er sei einfach verschwunden, aber das ist unwahrscheinlich. Das passt nicht zu Schrober. Schrober verschwindet nicht einfach. Aber ich sollte nicht mit dem Ende beginnen, denn dann würde ich mit dem Anfang aufhören.

Am Anfang war Schrober eindeutig einer von uns. Er war wie wir alle, nur ein wenig anders. Er war dem Bier sehr zugeneigt. Das waren wir auch, sieht man von Haffner ab, der nur Mineralwasser und Pflaumensaft trank. Ich habe ihn, Haffner, nie mit einem anderen Getränk im Glas an einem Tisch sitzen sehen, als Mineralwasser oder Pflaumensaft. Da ich in einem normalen Supermarkt niemals Pflaumensaft gefunden habe, habe ich mich oft gefragt, wo er den Pflaumensaft bezog. Gab es spezielle Pflaumensaft-Dealer? Oder gar Pflaumensaft-Gangs? Aber selbstverständlich habe ich ihn nie darauf hin angesprochen.

Doch ich schweife ab. Ich will nicht von Haffner berichten, sondern von Schrober. Auch wenn ich diesen Exkurs damit rechtfertigen kann, Schrober dadurch in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Tatsächlich kann ich Schrober kaum durch Schrober selber erklären. Naturgemäß ist er, wie wir alle, ein Produkt seiner Umwelt. Dazu müsste ich natürlich noch Schmidt, Paulsen und weitere Personen erwähnen, die Schrober zu dem machten, was er war. Doch dazu später. Erst einmal muss ich klären, was an Schrober das Besondere war und warum ich ein simples Verschwinden als Erklärung nicht in Erwägung ziehen kann. Dies soll das Ziel meiner Erörterung sein.

Schrober war, wie bereits gesagt, einer von uns. Einer, der trank, wenn wir tranken. Einer, der aß, wenn wir aßen. Und wenn wir gar nichts taten, lag er ebenfalls tatenlos auf einem Sofa oder einem Bett und starrte wohin auch immer. Das war nichts besonders, denn wenn wir nichts taten, und das taten wir oft, starrten wir auch wo hin auch immer, meistens ins Leere und ließen in unseren Köpfen die Gedanken kreisen. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass das Kreisenlassen von Gedanken unsere Hauptbeschäftigung war.

Dass Haffner der Letzte war, der Schrober lebend gesehen hatte, war kein Zufall. Haffner war immer der hellste von uns. Wenn in unseren Köpfen schon nicht mehr die Gedanken, sondern nur noch gleichmäßige Alphawellen ihre Kreise zogen, kamen ihm, Haffner, noch immer Ideen. Wir vermuteten immer, dass da etwas mit ihm nicht stimmte, dass er niemals in den Rhythmus kam, wie wir andere. Selbst Schrober fand immer irgendwann der Rhythmus, klinkte sich ein in unsere Gemeinschaft und ließ die Alphawellen zirkulieren.

Je länger wir uns kannten, desto weniger sprachen wir. Vielleicht ist das der natürliche Gang der Freundschaft. Vielleicht war es auch nur bei uns so. Früher sprachen wir viel und erzählten uns aus unserer Kindheit. Später saßen wir herum, tranken Bier, Mineralwasser oder Pflaumensaft und beobachteten wortlos wie die Staubkörner sich zu Staubmäusen formten, Nester bildeten und dann langsam, wie in Zeitlupe die Wände hinab glitten. Anfangs sahen wir uns noch von Zeit zu Zeit dabei an, manche, vor allem Paulsen, nickten wissend, wenn sich die Blicke trafen. Später wurde der Rhythmus wichtiger. Blicke wurden belanglos und nur noch selten erwidert. Die Augen bildeten schließlich nur einen Bruchteil dessen ab, von dem, was uns umgab, was wichtig war. Blicke waren nur einfachste formale Gesten. Small Talk, gewissermaßen, auf den wir mehr und mehr verzichten konnten, wenn wir unter uns waren.

„N' rotes Taxi,“ sagte Haffner. Das war viel. Zu viel vielleicht, denn ich spürte, als er es sagte, wie ich augenblicklich aus dem Rhythmus kam. „N' rotes Taxi,“ hallte es in meinem Kopf nach. Noch immer höre ich das Echo, leiser inzwischen, aber immer noch meinen Geist bedrängend, meinen Intellekt fordernd. „N' rotes Taxi.“ Das war seine Antwort auf die Frage, wo Schrober bliebe. Warum er nicht hier wäre. Warum er nicht mit uns hier säße. Warum seine Schwingungen fehlten. Denn sie fehlten uns allen ganz fraglos.

Ein rotes Taxi hatte ihn also geholt. Was das bedeutete war uns allen klar. Das konnte nur das Taxi zum Trinkteufel sein. In den Trinkteufel hat es keiner von uns geschafft. „Geschlossen,“ hieß es immer, wenn wir das Lokal betreten wollten oder „Kein Bier mehr.“ Er hatte es also in den Trinkteufel geschafft, Schrober. Als einziger von uns. Dass er nicht mehr wiederkam war klar. Das war uns allen klar. Niemand kommt lebend aus dem Trinkteufel.

Freitag, 6. Mai 2011

Der Maler und das Maedchen

von Sto H.

I
Gunthardt Hau ist bekannt für seine neoromantischen Gemälde. Beschauliche Idyllen, heitere Kinderszenen und harmonisch komponierte Stilleben praegen sein Werk seit Jahrzehnten. Das Publikum liebt ihn. Eine Gunthardt-Hau-Ausstellung ist ein sicherer Kassenfueller, wie ihn jedes Museum mindestens ein Mal pro Jahr benoetigt. Nur all zu gerne nimmt die Presse dem Kuenstler an, da die Leser und Hoerer die Bilder von Gunthardt Hau nicht nur schaetzen, sondern wirklich lieben. Nur wenige Kritiker stossen sich an seiner scheinbaren Oberflaechlichkeit. Die meisten feiern ihn als den Erneuerer der Kunst, den Ueberwinder der verkopften Malerei, den sinnlichen Meister der Farben. "Hau setzt den Menschen wieder dorthin, wo er hin gehoert: in den Mittelpunkt," schrieb ein euphorischer Kritiker in einer grossen Zeitung. Ein anderer schwaermte, dass Gunthardt Hau "die Menschlichkeit in jedem Grashalm dargestellt." Er faehrt fort: "Mit jedem Wesen, mit jedem Gegenstand ist Hau in tiefster Zuneigung verbunden. Seine Bilder zeigen, wie seine Liebe alles umspannen will wie Zelt. Und damit oeffnen sie unsere Augen für die Mitwelt – sei sie Kreatur oder Objekt."

Gunthardt Hau laeuft in seinem Atelier auf und ab. Seine schweren Arbeiterstiefel sind ueber und ueber mit Farbe bespritzt, ebenso sein Kittel und die Hose. In der Mitte des Raumes steht auf der Staffelei das Bild, das Gunthardt Hau gerade vollendet. Es zeigt ein etwa siebenjaehriges Maedchen, das auf einer fruehlingshaften Wiese steht. Das hohe Gras reicht ihr bis an die Huefte. Schmetterlinge und Zikaden sind zu sehen. Mohnblumen leuchten rot. Das Maedchen traegt ein blaues Kleid mit weissen Punkten. Auf dem Tisch neben der Staffelei steht eine Flasche Wein neben einer Zeitung. Es ist die Donnerstagsausgabe der Zeitung, die Gunthardt Hau seit Jahrzehnten abonniert hat. "Schwachsinn, alles Schwachsinn," schimpft er, greift nach der Weinflasche und nimmt einen tiefen Schluck.

Montag, 2. Mai 2011

"Menschen in Bochum"

Erster Entwurf fuer das grosse Herbert-Groenemeyer-Musical „Menschen in Bochum“:
Das U-Boot taucht aus dem Kemnader See auf (die Huegel mit der Uni-Bochum malerisch im Hintergrund) und legt an. Groenemeyer wirft seine Muetze hoch und springt an Land. Singt dabei Maenner. Seine Frau Anna empfaengt ihn. Er erzählt ihr von der Angst, die er im Boot ausstehen musste und von Amerika, das er nur von der Bruecke aus kurz gesehen hatte. Gemeinsam fahren sie in der Stadt. An einer Imbissbude machen sie halt und essen eine Currywurst mit Dieter Krebs. Doch die Wurst bekommt ihm nicht. Auf der Weiterfahrt klagt Groenemeyer ueber Flugzeuge im Bauch. Dagegen hilft tanzen. In der Stadt angekommen, freut er sich, wieder zuhause zu sein und singt Bochum. Anna gesteht ihm, dass er in der Zwischenzeit Vater geworden sei. Marie heisse das Maedchen. Kinder an die Macht fordert er. Als Abschluss (der Foerderturm des Bergbaumuseums im Hintergrund) singt er Mensch, begleitet von einem Kinderchor.

Freitag, 15. Oktober 2010

Altpapier

Ich bin spät dran. Hoffentlich schaffe ich es noch. Die Armbanduhr zeigt schon zehn vor zehn. Eilig überquere ich die Straße bei rot. Das soll man nicht machen. Aber ich habe es halt eilig, denn ich will nicht zu spät kommen. Das könnte sonst Ärger geben. Schon sehe ich das Ziel vor mir. Die Straßeneinmündung der Querstraße und, auf meiner Straßenseite, die vier Container: Weißglas, Grünglas, Braunglas und Altpapier. Es ist fünf vor zehn. Ich bin pünktlich – fast überpünktlich. Glück gehabt. Aus dem Grünglascontainer höre ich ein leises Raunen. Vielleicht war es aber auch nur der Wind. Das Wetter scheint heute unbeständig zu sein. Die Wolken wirken unentschlossen, ob sie ihre feuchte Fracht abwerfen, oder damit doch lieber bis morgen warten sollen. Ich gehe zum Altpapiercontainer und horche gespannt hinein.

Donnerstag, 16. September 2010

Ungarn

Ich setze mich hin, stelle meinen Kaffee auf den Tisch und falte die Zeitung auf. Zunaechst lese ich einen Artikel ueber die aktuellen politischen Entwicklungen in Ungarn. Ich war noch nie in Ungarn. Die Situation dort sieht nicht gut aus, dem Artikels nach zu urteilen. Ich blaettere weiter. Ja ja, wir hatten mal wieder den Jahrestag dieses Terroranschlages. Auch Agatha Christie ist nun hundert Jahre tot.

Freitag, 3. September 2010

Der Fragebaer

Unter dem Hochbahnhof Schoenhauser Allee, dort, wo die Menschen immer in Massen die Strasse ueberqueren um zur U-Bahn, S-Bahn oder Strassenbahn zu eilen und dabei die Stadtzeitungsverkaeufer fast umrennen, stand letztens der Fragebaer und wartete darauf, dass ihn jemand etwas fragte. Er musste einige Zeit warten. Ziemlich lange sogar. Die Menschen eilten vorbei mit Tueten aus dem nahe gelegenen Einkaufszentrum oder mit Pappbechern aus dem Coffee-Shop auf der anderen Seite der Schoenhauser Allee. So sah er nach rechts. Dann nach links. Und bevor er wieder nach rechts schauen konnte, stand ein kleines Maedchen vor ihm und starrte ihn an. „Fragebaer,“ sagte sie. „Ich habe eine Frage. Kann ich dir eine Frage stellen?“ Der Fragebaer deutete mit seiner Tatze auf einen Schlitz, der sich an seiner rechten Flanke befand. Neben dem Schlitz war ein Schildchen angebracht auf welchem „1 Euro“ zu lesen war. Das Maedchen kramte nun eine Ein-Euro-Muenze aus ihrer Hosentasche und warf sie in den Schlitz. Es klingelte. Der Fragebaer hatte den Muenzfänger am Vortag vorsorglich nicht geleert. Er laechelte das Maedchen an. „Ja, bitte. Ich hoere deine Frage.“ - „Aalsooo,“ begann das Maedchen. „Warum duerfen bestimmte Menschen in der Oeffentlichkeit andere Menschen mit dummen Vorurteile beleidigen, ohne dass die Mehrheit diese dummen Menschen verurteilt, ja sie vielmehr unterstuetzt in ihrem falschen Reden? Warum ist das so?“ Der Fragebaer sah das kleine Maedchen an, schaute dann wieder hoch, durch die Stuetzen der Hochbahn in Richtung Mitte und sagte dann achselzuckend: „Das ist halt so.“

Donnerstag, 12. August 2010

Die Nacht des heiligen Telefons

Ron - oder die Nacht des heiligen Telefons
Ron - Or The Night Of The Holy Telephone
(c) stoha 2010 Zeichnung Tusche 80 x 105 mm