Freitag, 6. Mai 2011

Der Maler und das Maedchen

von Sto H.

I
Gunthardt Hau ist bekannt für seine neoromantischen Gemälde. Beschauliche Idyllen, heitere Kinderszenen und harmonisch komponierte Stilleben praegen sein Werk seit Jahrzehnten. Das Publikum liebt ihn. Eine Gunthardt-Hau-Ausstellung ist ein sicherer Kassenfueller, wie ihn jedes Museum mindestens ein Mal pro Jahr benoetigt. Nur all zu gerne nimmt die Presse dem Kuenstler an, da die Leser und Hoerer die Bilder von Gunthardt Hau nicht nur schaetzen, sondern wirklich lieben. Nur wenige Kritiker stossen sich an seiner scheinbaren Oberflaechlichkeit. Die meisten feiern ihn als den Erneuerer der Kunst, den Ueberwinder der verkopften Malerei, den sinnlichen Meister der Farben. "Hau setzt den Menschen wieder dorthin, wo er hin gehoert: in den Mittelpunkt," schrieb ein euphorischer Kritiker in einer grossen Zeitung. Ein anderer schwaermte, dass Gunthardt Hau "die Menschlichkeit in jedem Grashalm dargestellt." Er faehrt fort: "Mit jedem Wesen, mit jedem Gegenstand ist Hau in tiefster Zuneigung verbunden. Seine Bilder zeigen, wie seine Liebe alles umspannen will wie Zelt. Und damit oeffnen sie unsere Augen für die Mitwelt – sei sie Kreatur oder Objekt."

Gunthardt Hau laeuft in seinem Atelier auf und ab. Seine schweren Arbeiterstiefel sind ueber und ueber mit Farbe bespritzt, ebenso sein Kittel und die Hose. In der Mitte des Raumes steht auf der Staffelei das Bild, das Gunthardt Hau gerade vollendet. Es zeigt ein etwa siebenjaehriges Maedchen, das auf einer fruehlingshaften Wiese steht. Das hohe Gras reicht ihr bis an die Huefte. Schmetterlinge und Zikaden sind zu sehen. Mohnblumen leuchten rot. Das Maedchen traegt ein blaues Kleid mit weissen Punkten. Auf dem Tisch neben der Staffelei steht eine Flasche Wein neben einer Zeitung. Es ist die Donnerstagsausgabe der Zeitung, die Gunthardt Hau seit Jahrzehnten abonniert hat. "Schwachsinn, alles Schwachsinn," schimpft er, greift nach der Weinflasche und nimmt einen tiefen Schluck. Rote Tropfen spritzen zur Seite. Einige landen auf seinem Kittel, andere platschen auf den Boden. Er achten nicht auf die Flecken und wischt sich mit dem Aermel seines Kittels den Mund ab. Als er die Flasche wieder zurueckstellt, faellt sein Blick auf die Zeitung. "Die Menschlichkeit in jedem Grashalm," liest er. "Was fuer ein bodenloser Schwachsinn." Er schmeisst die Zeitung veraechtlich auf den Boden. "Blind sind die. Alle sind blind. Blinder als blind," schimpft er. "Und die Blindesten schreiben die absurdesten Auslassungen." Er tritt naeher an sein Bild und betrachtet einen der Grashalme. "Menschlichkeit? Wie kommen die bloss bei einem Grashalm auf Menschlichkeit? Ein Grashalm ist ein Grashalm." Er dreht sich wieder um, greift nach der Rotweinflasche und setzt sie an seine Lippen. Ein paar Tropfen treffen die Zeitung. Er wischt sich mit dem Aermel den Rotwein aus dem Bart. "Und die Blinden schreiben dann den Schwachsinn bei den Blindesten ab, weil sie selbst auch nichts sehen. Erschiessen sollte man sie. Erschiessen. Alle." Er nimmt noch den letzten Schluck aus der Weinflasche und wirft sie weg. Sie zerspringt klirrend in der Ecke unterhalb des Fensters. "Ich kaufe mir ein Gewehr und erschiesse sie alle," sagt er und betrachtet das Maedchen, das einen Blumenstrauss in der Linken haelt, waehrend sich ihre rechte Hand nach einer blauen Kornblume ausstreckt. "Dass sie das nicht sehen," sagt er zu sich, denn sonst ist niemand im Atelier. "Das ist doch so offensichtlich. Wie soll ich das denn noch offensichtlicher machen? Soll ich meine Interpretation noch darunter schreiben, fuer die ganz Doofen? Sind wir schon wieder so weit?"


II
"Wie sie das schaffen," sagt die aeltere Dame, die sich Gunthardt Hau in den Weg gestellt hat. Ihr faltiger Hals scheint aelter zu sein, als der Rest ihres Koerpers, obwohl auch das Gesicht von tiefen Furchen durchzogen ist. Doch die blauen Augen leuchten begeistert wie Kinderaugen. "Wie sie das immer wieder schaffen, Herr Hau, also ich bin immer immer wieder hingerissen. Wirklich hingerissen. Ich weiss nicht, wie ich es anders sagen soll. Mein Herz geht immer wieder auf, wenn ich so etwas sehe." Sie weist auf das Bild mit dem Mädchen in der Fruehlingswiese, das prominent in der Mitte der Stirnwand haengt. Gunthardt Hau starrt die alte Frau unglaeubig an. Blind denkt er und stellt sich vor, wie er den faltigen Hals wie einen Waschlappen wringt bis der letzte Tropfen Leben aus ihrem Koerper gewichen ist. "Ganz, ganz schoen," sagt sie. "Ja ja," sagt er und draengt sich an ihr vorbei. Nur weiter. Nur nicht stehen bleiben. Wenn er stehen bleibt, ist er verloren. "Ein Foto, Herr Hau." Parasiten, denkt Gunthardt Hau, waehrend er sich vor sein Mädchen in der Frühlingswiese stellt und in die Kamera schaut. Nur nicht laecheln, auch wenn ihm das alles so laecherlich vorkommt. Laecheln sieht laecherlich aus. "Ganz toll, super, ja, bleiben sie so." Die Kamera des Fotografen blitzt drei Mal, so dass bunte Kringel vor Gunthardt Haus Augen tanzen. Dann tritt der dumme Kurator auf. Die Klette. Eine Pfeife vor dem Herrn. Immerhin bekommt er genug Schmerzensgeld, dafuer, dass er dessen Naehe aushalten muss, denkt Gunthardt Hau. Und wieder muss er diesen Satz hoeren, dass er „die Menschlichkeit in jedem Grashalm dargestellt.“ Wieder und wieder wird Gunthardt Haus allumfassende Liebe erwaehnt, die jedes Lebewesen und jeden Gegenstand einschliesst. „Ein Band der Liebe zwischen Kreatur und Natur,“ doziert der Kurator sinnfrei und sieht dabei aus wie ein Pavian im Anzug.

Zwei Maedchen mit langen Haaren, wahrscheinlich Kunstgeschichts-Studentinen, verteilen Glaeser mit Sekt und Orangensaft. Kunstgeschichts-Studentinnen sind die Schlimmsten, denkt Gunthardt Hau, und nimmt sich gleich zwei Glaeser Sekt. Dabei schaut ihn die Studentin so devot wie bloed an. Sie sind die Blindesten der Blinden, denkt er und spürt bei ihrem Anblick ein diffuses Magendruecken. In ein paar Jahren werden sie den billigen Sermon ihres geliebten Professors wiederkaeuen und in unlesbaren Dissertationen und uninspirierten Buechern veroeffentlichen. Erschiessen, bevor es zu spaet ist, faehrt es ihm durch den Kopf. Den angenehm kuehlen Lauf einer neun Millimeter Pistole auf ihre Stirn platzieren und dann abdruecken, bevor es zu spaet ist. In der Mitte der Galerie, stellt er sich vor, muesste ein Maschinengewehr aufgebaut werden. Ein grosses Maschinengewehr, so wie es im Weltkrieg verwendet worden war. Und genuegend Munition, so dass er die blinden Kunstparasiten innerhalb einer halben Minute alle laut klackend ummaehen koennte. Zwei Runden und alle waeren mehrfach durchsiebt von den Projektilen. Das stellt sich Gunthardt Hau vor, waehrend ein bebrillter Mann ihn duemmlich angrinst. Wie saehe dieser junge Mann wohl aus, haette Gunthardt Hau dieses Maschinengewehr tatsaechlich? Wuerde er ihn dann ebenso duemmlich ansehen. Der Mann strahlt ihn gluecklich an. "Herr Hau, ich bin begeistert. Wie sie den Menschen darstellen. Wie sie ihn wieder... wie heisst es so schoen? Wie sie ihn wieder in die Mitte stellen. Wie jeden Grashalm... Das ist wirklich keine Phrase. Ich empfinde das ganz genauso, wenn ich vor einem Bild von ihnen stehe. Sie sind... also ich finde... Einzigartig. Ich kenne keinen anderen. Nein, ich bewundere sie wirklich." Gunthardt Hau sieht ihn an und erschaudert. Womit, fragt er sich, hat er diese debilen Bewunderer verdient. Ein Maschinengewehr. Er braucht ein Maschinengewehr. Sofort.

Und schon wieder steht eine Frau vor ihm. Eine junge Frau mit offenem Haar und weit aufgerissenen Augen. "Herr Hau," sagt sie sehr hoeflich. "Ich muss ihnen etwas gestehen." Er sieht sie uninteressiert an. "Ich muss ihnen sagen, dass ich ihre Bilder hasse." Er starrt sie ueberrascht an. Sie laechelt. "Ja, ich hasse sie wirklich. Ich hasse sie abgrundtief. Sie machen mich..." Sie blickt nachdenklich auf das Maedchen in der Fruehlingswiese, als ob sie die richtigen Worte sucht. Ueberwaeltigt starrt er sie an. Was für ein Wunder, dass er eine solche Person trifft, dass er sie gerade hier trifft, wo er sie am allerwenigsten erwartet hat. Eine Person, die ihn anscheinend versteht, die seine Bilder versteht. Eine Sehende unter Blinden. Dass es einen solchen Menschen doch noch gibt auf dieser Erde, diese Hoffnung hat er schon vor Jahrzehnten begraben. Ihre Augen fixieren das kleine Maedchen auf dem Bild. "Wuetend. Ja, ihre Bilder machen mich wuetend," sagt die junge Frau und zieht aus ihrem rechten Stiefel ein langes Fleischmesser hervor. "Wuetend. Rasend." Bevor er die Lage begreift, sticht sie drei Mal zu. Kaltbluetig schiebt sie das Messer tief in die Brust des beruehmten Malers, bevor zwei Maenner sie mit vereinten Kräften ueberwaeltigen koennen. Schreie. Rote Tropfen perlen in den Sekt-Glaesern der Gaeste. Rote Flecken auf den hellen Blusen der Damen. Aber ich will aber jetzt noch nicht sterben, denkt Gunthardt Hau und betrachtet sein Hemd, dass sich inzwischen gaenzlich rot gefaerbt hat. Langsam wird es heller. Heute noch nicht, denkt er. Dann fallen seine Augen zu.

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