Dienstag, 13. April 2010

Fuehlen

von stoha


Wann und wo sich dies zugetragen hat, vermag ich nicht mehr zu sagen. Auch an die Details erinnere ich mich nur noch bruchstückhaft. Nur die Stimme höre ich noch deutlich vor mir. Es war eine helle und klare Stimme, zum Teil durchdringend und schrill, dann wieder nur ein undeutliches Murmeln. Sie ließ die Wohnungstür achtlos ins Schloss fallen, sah sich nicht um. Ihr Gesicht war schön, und wenn es gelächelt hätte noch schöner, doch es sah ernst in sich hinein. Die strähnigen Haare standen ab. Auf der Treppe kam ihr ein Nachbar entgegen, ein junger Mann, vielleicht ein Student. Er grinste, als er sie sah, doch sie bemerkte ihn nicht. Sie rieb ihre Haare, als sie aneinander vorbei gingen, murmelte, trat dann auf die Straße. Die Sonne blendete sie. Sie hielt in ihrem Murmeln inne und kniff die Augen zusammen, sah sich um. Dann ging sie weiter. „Dass sie das nicht sehen,“ sagte sie. „Dass sie das alles nicht sehen. Sie müssen es doch spüren. Ja. Zumindest spüren müssten sie es.“ Ein Mann ging vorbei, sah sie fragend an und beeilte sich weiter zu kommen. „Es ist doch offensichtlich. Jeder muss das doch sehen. Oder zumindest spüren. Was ist bloß aus den Menschen geworden. Sie rennen herum und spüren nichts. Gar nichts spüren sie. Als ob sie blind wären. Dabei müssten sie es doch sehen. Aber sie sind blind geworden. Sie sehen nichts mehr. Stattdessen diskutieren sie. Sie sehen nichts, aber diskutieren darüber. Diskutieren immer. Alles müssen sie diskutieren. Warum diskutieren sie denn? Was soll das alles? Da kommt doch nichts bei raus. Reden über die Wahrheit. Die Wahrheit. Die Wahrheit muss man doch spüren. Ja, spüren die denn die Wahrheit nicht? Spüren die denn nichts? Eine Schere könnte man ihnen in den Handrücken rammen und sie würden nichts spüren.“ Sie sah sich um. Die Leute gingen achtlos an ihr vorbei. „Spüren,“ sagte sie laut. „Die Wahrheit muss man doch spüren. Was soll das alles. Was sollen all diese Diskussionen. Reden. Immer nur reden. Aber was nützt all das reden, wenn man nichts spürt?“ Eine alte Frau blickt sie an. „Sie spüren doch was, oder?“ fragte sie die Frau. Die Frau sah weg und ging weiter. Sie sah ihr kopfschüttelnd nach. „Was für einen Sinn hat es denn? Warum spüren die denn nichts? Die müssten doch merken, dass etwas nicht stimmt. Da stimmt doch etwas nicht. Spüren die etwa nichts? Hören die denn nichts? Hören die denn nicht in sich? Fragen die sich denn nicht, was mit ihnen falsch läuft? Das darf man doch wohl mal fragen?“ Sie ging die Straße entlang. Menschen kamen ihr entgegen. „Menschen, die nichts spüren – was sind das denn für Menschen? Sind das denn noch Menschen, die die Wahrheit nicht spüren? Die nur reden? Reden, reden, reden und nur Lügen. Ja, sie lügen, die Menschen. Die Menschen lügen. Sie lügen alle an und reden von der Wahrheit. Dabei lügen sie sich doch nur selber an. Aber sie merken es nicht. Sie spüren ja nichts. Sie reden nur und spüren nichts von der Wahrheit. Und das wollen Menschen sein? Dabei muss man doch nur sehen. Sehen und fühlen. Denn wer sieht, der fühlt auch. Und wer fühlt diskutiert nicht. Ich bin nicht so arrogant, wie die, die da nur reden. Ich fühle. Ich fühle die Wahrheit. Und wer Wahrheit fühlt, der weiß, dass es die Wahrheit ist, weil er dann nämlich nicht mehr diskutieren muss.“ Sie blieb stehen und fasste mit ihren Armen um ihren Körper. „Ich habe wirklich die Wahrheit gefühlt. Ich habe sie gefühlt. Ich rede nicht so, weil ich diskutieren will. Nein, ich rede so, weil ich die Wahrheit fühle. Und ich weiß, dass alle sie fühlen könnten, wenn sie nur wollten. Aber sie wollen einfach nicht. Sie drehen sich um und reden nur, reden von Intelligenz und Logik und Verstand, aber die Wahrheit, die Wahrheit spüren sie nicht. Die fühlen nichts, diese arroganten Menschen. Sie fühlen nichts mehr und reden nur noch. Reden, reden und reden und fühlen nichts.“ Ein junger Mann war stehen geblieben und hatte ihr zugehört. „Ja,“ sagte er sehr langsam. „Ich verstehe dich.“ Sie blickte ihn an. „Ja? Du verstehst mich?“ - „Ja. Ich verstehe dich. Es ist schön, wie du das gesagt hast. Das mit der Wahrheit.“ - „Ja,“ sagte sie. „Ich habe sie gespürt die Wahrheit. Es ist schön, sie zu spüren.“ - „Ja, schön.“ - „Aber sie spüren nichts.“ - „Nein, nichts.“ - „Gar nichts spüren sie. Sie reden nur und laufen vorbei und achten nicht darauf, ob ich hier stehe oder nicht. Ob ich lebe oder nicht. Sie achten auf gar nichts. Nicht auf die Wahrheit und nicht auf die anderen Menschen. Sie laufen hier einfach vorbei. Sie merken nichts. Gar nichts.“ - „Ja. Das spüre ich auch.“ - „Nichts spüren sie. Ist es nicht traurig? Früher haben sie noch was gespürt und heute spüren sie nichts mehr. Früher wussten sie was richtig ist und was falsch und heute diskutieren sie, reden über dies und das und über Gesetze. Und das kann man nicht machen, und dies geht nicht. Aber die Wahrheit, die Wahrheit fühlen sie nicht mehr. Sie fühlen gar nichts mehr. Sie diskutieren nur noch.“ - „Ja. Das ist traurig.“ Er zog eine Flasche Bier aus der Tasche. „Willst du auch eines?“ fragte er. Sie sah das Bier an. „Wieso fühle ich das und die anderen fühlen es nicht?“ Sie sah ihn an, während er die Flasche öffnete. „Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, ob du mich verstehst. Aber du bist ein Mensch. Du fühlst. Ja. Du fühlst. Du redest nicht. Du bist ein echter Mensch.“ Sie starrte ihn an. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Er trank. Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, ob du mich wirklich verstehst?“ Plötzlich drehte sie sich um und ging weiter. Der Junge sah ihr nach. „Nein, keiner versteht das,“ rief sie. „Keiner versteht das. Dafür müsste man fühlen. Denn die Wahrheit kann man nur fühlen. Die Wahrheit kann man doch nicht einfach herdiskutieren. Das geht doch nicht. Die Wahrheit ist doch nicht irgendein Gesetz oder ein Klischee. Die Wahrheit ist die Wahrheit. Das ist doch der Punkt. Die Wahrheit ist wahr. Das kann man doch nicht diskutieren. Wie soll man die Wahrheit denn herbei diskutieren? Das funktioniert doch einfach nicht. Aber das sehen die Menschen nicht. Das fühlen sie noch nicht einmal. Aber sie müssten es doch fühlen. Jeder müsste es doch fühlen. Alle müssten es fühlen. Aber niemand will es fühlen. Alle wollen nur reden, reden, reden. Und glauben, sie könnten die Wahrheit herbei reden. Wie soll das gehen? Wie kann man nur so arrogant sein? Wie kann man das nur glauben, frage ich mich.“ Sie griff sich an den Kopf. „Man kann doch nicht reden und reden und reden und glauben, plötzlich käme die Wahrheit. Das kann doch gar nicht funktionieren. Die Wahrheit kommt nicht so einfach um die Ecke. Die Wahrheit muss man fühlen.“ Sie war wieder im Haus angekommen und schloss ihre Tür auf. „Dass sie das nicht sehen,“ sagte sie. „Dass sie das nicht... verstehen. Die Wahrheit muss man fühlen.“ Die Tür nebenan öffnete sich. „Sag mal, musst du deine Selbstgespräche immer so laut führen?“ fragte der junge Mann, der so aussah, als käme er gerade aus dem Bett. Sie zuckte zusammen und starrte ihn an. Ohne ein Wort zu sagen sprang sie in ihre Wohnung und schlug die Tür hinter sich zu. Der junge Mann seufzte, schüttelte den Kopf und schloss seine Tür. Zwei Tage später fand man ihn mit einem Messer im Bauch. Drei Stiche zählte der Gerichtsmediziner in der Brust und drei an seinem Hals. Vier davon waren tödlich. Während zwei Polizeibeamte die Leiche die Treppe hinab trugen, drängte sich eine kleine Frau mit verschwitzen Haaren an ihnen vorbei. „... dass sie die Wahrheit nicht fühlen die Menschen,“ hörte einer der Beamten sie murmeln. Die beiden sahen ihr nach und grinsten sich dann kopfschüttelnd an. Ein Mörder wurde leider nicht gefasst.

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